NACH DEM ULI KOMMT DER PUNK
Beginnen wollen wir mit unseren Nachbarn, den schönen Franzosen.
Das noch etwas währende, vehemente Durchpflügen einiger Alben-Bestenlisten aus dem nun schon ewig entfernt scheinenden Jahr 2013 brachte mir vor eingen Wochen die Band YOUTH AVOIDERS auf den Schirm. Zwar wurde an der Stelle, die ich nun natürlich nicht mehr kenne, ich glaube es war im Plastic Bomb, ihr selbstbetiteltes Album angepriesen, jenes ist in meinen Augen aber längst nicht so wunderbar rasierend on point wie ihre EP "Time Flies" aus dem Jahr 2011. Die Platte ist dabei nicht nur gegen "name your prize" erhältlich, nein, es gibt verdammt noch einmal schicksten Punk Rock mit angenehmem Hang zu Melodien, angemessenen Kanten und unstillbarer Energie. Während "Boredom Airline" mit wunderbarst hysterischen Gitarren startet und von pervers treibenden Drums verfolgt wird, bringen die Franzosen mit "Red Eyes" einen perfekt bierlaunigen Smasher aufs Parkett, der in schmissig-beschwingter Art und Weise den Sommer einläutet. Rotziger Punk Rock in gut? Soll genau so klingen!Wie bereits vor einigen Monaten angekündigt, erschien dieser Tage das Punk Rock-Großwerk "Heartattack" von HELL & BACK. Die Schwaben-Punks vollführen darauf einen gar bezaubernden Tanz, der getragen wird von reflektierten Anleihen aus dem breiten Potpourri der 90er Skate Punk-Ära, ungemein ausgefeiltem Songwriting, einer immens hohen Hitdichte und einem Gespür für die richtigen Melodien, welche sich mit jedem Hören tiefer in das Herz eingravieren. 10 von 10 Punkte gab es dafür meinerseits, und wer in Sachen gut gemachtem melodischem Punk Rock noch neidisch nach Kalifornien oder Schweden schielt, dem ist nicht mehr zu helfen: "Cheers To Those Who Wish Us Well, And Those Who Don't Can Go To Hell."
Bleiben wir bei bestem Punk Rock: Hatte ich doch während meiner Skate Punk-Hochzeit Anfang der 2000er nach wahrlich jeder Art von tight gespieltem Punk Rock mit Melodie und Speed Ausschau gehalten, ist doch eine Band unter meinem Radar geflogen, deren Schönheit ich erst im letzten Jahr kennenlernen durfte - besser jedoch spät als nie! Die Rede ist von den Kanadiern BELVEDERE, die sich 1995 gründeten und in den darauffolgenden zehn Jahren Manifeste abfeuerten, geht es um anspruchsvollen und verdammt geilen Punk Rock. Nicht dass "Angels Live In My Town" nicht bereits eine Großtat war, nein, ihr 2001er Album "T'was Hell Said Former Child" ist eine Offenbarung in Sachen immens schnellem Melodic Punk, der die perfekte Symbiose aus Aggressivität, musikalischem Anspruch und Punk Rock darstellt. Eine Re-Release der beiden Platten auf Vinyl flatterte vor einigen Tagen bei mir zu Hause ein, das Glück ist also perfekt und Melodycore hält mehr und mehr wieder Einzug in meinen vier Wände. Dazu kommen noch einige Reunion-Shows, die mehr als amtlich daherkommen und viele glückliche Gesichter zeigen. Hervorzuheben sind Hits wie "A Juxtaposition Of Action And Reason", "Two Minutes For Looking So Good" oder "She Sells And Sand Sandwiches", aber eigentlich gab es bei Belvedere nur Granaten. Und Gänsehaut aufgrund zeitlosem Punk Rock.
Und weil wir erst schon einmal das betörend schöne Schweden erwähnt haben, soll uns an dieser Stelle die noch recht frische Post Pop Punk-Kapelle VANNA INGET nicht vorenthalten werden.
Die drei Herren sowie Frontfrau schmettern seit 2011 angenehm atmosphärischen Post Punk durch den Äther, der sowohl poppige Elemente hat als auch Ecken und Kanten in seinen Sound zu integrieren weiß. "Ingen Botten" heißt das aktuelle Release und präsentiert dabei einen sehr stark von den 80ern inspirierten Punk-Sound, der durch die schwedischen Lyrics und die beeindruckenden Vocals recht zügig einen eigenständigen Charakter entwickelt und zu gefallen weiß. Dazu kommt die angenehm düstere Atmosphäre und ein schickes Songwriting, die perfekte Untermalung also für einen grauen Samstagnachmittag ohne der aufmunternden Tasse Kakao.
Nach einigen Gerüchten kam nun vor einigen Tagen auch die Gewissheit dazu: Eine der wichtigsten europäischen Hardcore-Truppen ist zurück, und dies nicht nur per Reunion-Show, sondern auch mittels neuem Output. RYKER´s sind back und werden noch in diesem Jahr über BDHW Records eine neue Platte herausbringen. Nach einigem Hin und Her innerhalb der letzten Jahre (erste Auflösung 2000, erste Reunion 2003, dann wieder 2008, ehe im gleichen Jahr wieder die Auflösung bekannt gegeben wurde), wollen die Jungs aus Kassel noch einmal Fakten schaffen und No-Bullshit-Hardcore präsentieren, mithilfe dessen sie bereits Ende der 90er famose Hits wie "Cold, Lost, Sick" oder "Brother Against Brother" erzeugten. Auch wenn zu erwarten ist, dass ihr Sound aus der Zeit gefallen klingen wird, ist eine gespannte Vorfreude nicht zu leugen.
Zuguterletzt noch eine kleine Geschichte aus meiner aktuellen Wahlheimat Stuttgart. Vor einigen Monaten begab ich mich ins (nun bereits geschlossene) Rockers 33, um meinem ersten Song Slam beizuwohnen. Hobbymusiker stellen dabei eigenkomponierte Songs vor, und meine Erwartung/Hoffnung war, dass es sich mit dem Niveau ähnlich zu einem guten Poetry Slam verhält. So war es dann nicht ganz, es gab recht viel Mario Barth-Humor und kitschige Love-Songs, aber zur positiven Abwechslung auch musikalisch hochwertige Gitarrenarbeit und Texte zum Um-die-Ecke-Denken. Mein Highlight an jenem Apriltag war jedoch ein sehr kurzes Stück namens "Liebe Eltern", welches Solo mit Akustikgitarre in einer großartigen Mischung aus selbstverliebter Arroganz und bemitleidenswerter Larmoyanz, gepaart mit einer gesunden Prise Antihaltung vorgetragen wurde. Der Text ging folgendermaßen: "Liebe Eltern, ich brauche euch nicht. Was ich brauche, verrate ich nicht, aber euch brauch ich nicht. Euch brauche ich nicht, mich braucht ihr nicht. Warum hab ich nichts zu essen da? Liebe Eltern, Liebe Eltern, ich brauche euch nicht." Großartig, weil so widersprüchlich, und doch so treffend. Dazu gabs simple Sounduntermalung und das angenehme Gefühl, dass dem da oben das alles eigentlich scheißegal war und er den Track nur vorträgt, um die Leute anzupissen. Damit kam der mir sehr sympathische Songwriter natürlich nicht weiter und das Publikum wählte einen Rap-verarschenden ("Koks und Nutten" - verpiss dich!) und über sein Pech mit Frauen singenden Fuzzi als Sieger - ach ja. Egal, aus den Augen, aus dem Sinn, aber parallel zur Veröffentlichung des neuen Albums "Fun" und dessen mehrfacher Huldigung in diversen Medien ("Eine der wichtigsten und besten deutschsprachigen Platten dieses Jahrzehnts") durfte ich das Stuttgarter Trio DIE NERVEN kennenlernen. Und wer spielt da Bass? Na eben der Typ! Und was machen die für Mucke? Na besten nihilistischen Post Punk mit Noise-Anleihen und deutschen Texten. Und was für welche: "Alles wie gehabt. Nichts hat sich verändert. Ich stehe abends auf und gehe morgens schlafen. ... Wer ich bin ist nicht so wichtig. Hauptsache man lässt mich in Ruhe". Dieser musikalische Mittelfinger an alles und jeden, dieses betörende Herausziehen aus dem tagtäglichem Verschleiss und der Sinnlosigkeit der Existenz wird dazu untermalt von verstörend flirrenden Gitarren, einem räudig dröhnenden Bass und ekstatischem Schlagzeug. Oben drauf dieses Video, welches es sich zu geben lohnt. Direkt, kalt und verdammt anti - wer gerade besseren Punk in Deutsch fabriziert war die Frage.
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