ANCHOR
Eine große Einleitung brauche ich zu den Herren aus Göteborg wohl kaum schreiben, da sie jeder halbwegs an Qualitäts-Hardcore interessierte Zeitgenosse mindestens schon einmal in seinem Leben gesehen haben sollte. Daher spare ich mir das Geschwafel und wünsche viel Spaß bei den folgenden 4.544 Wörtern Interviewtext. XschmelzX
partyausfall.de: Hi Matte, kannst du uns auf den neuesten Stand in Bezug auf Anchor bringen? Seit der "Relations of violence" 7" sind ja nun zwei Jahre vergangen, und ich schätze mal, dass ihr nicht auf der faulen Haut gelegen habt, oder?
ANCHOR: Nein, auf keinen Fall. Also, die "Relation of violence" 7” kam ja im August 2009 raus, und eigentlich wollten wir direkt nach der damaligen Sommertour Songs für ein neues Album schreiben. Allerdings machte unser Schlagzeuger damals gerade eine harte Zeit durch, sodass aus diesen Plänen nichts wurde. Ich glaube, wir haben im Herbst 2009 nur zwei Songs geschrieben und eine Handvoll Shows gespielt, und das war’s dann auch. Im letzten Jahr haben wir ein bisschen getourt, sind zum zweiten Mal in den USA unterwegs gewesen und haben im Oktober damit begonnen, die Stücke für das aktuelle Album "Recovery" zu schreiben. So weit die Story bist jetzt.
ANCHOR: Nun, Anchor besteht aus mir, Mattias, Fredrik, Calle, Ulf und Claes. Calle stieß vor einem Jahr zu uns, da unser vorheriger Schlagzeuger nicht die Zeit für eine Vollzeitband aufbringen konnte. Er studiert momentan und arbeitet mit Abhängigen und geistig behinderten Menschen. Er ist 23, glaube ich. Ulf ist 22 und studiert irgendwas mit Grafikdesign. Fredrik arbeitet mit geistig behinderten Menschen und ist 24 Jahre alt. Claes arbeitet in einem Klamottenladen und wird bald 30 Jahre alt sein. Ich selbst bin 29 und studiere Religionswissenschaften an der Uni. Darüber hinaus versuche ich gerade, ein Buch über erwachsende Kinder von Alkoholikern zu schreiben.
Wir haben alle Seitenprojekte neben Anchor. Es sind sogar so viele, dass ich hier nur meine eigenen aufzählen werde: Ich spiele in einer melodischen Hardcore-Band namens Youngblood, in einer Black/Metal/Crust-Kapelle namens Blessings, einer Blackmetal/Drone/Ambient-Combo mit dem Namen Crowned with Horns und noch in ein paar anderen Geschichten. Außerdem hoffe ich, demnächst wieder intensiver Fußball spielen zu können und zwar so professionell wie früher.
partyausfall.de: Erzähl uns bitte ein wenig über eure neue Platte "Recovery". Wie waren der Aufnahmeprozess und das Songwriting? Gab es Unterschiede zu euren vorherigen Studioaufnahmen? Seid ihr mit dem Ergebnis zufrieden? Um was geht es bei dem Titel der Platte?
Das Schreiben der Songs ging relativ schnell von statten. Ich hatte vorab schon einen Großteil des Materials ausgearbeitet und stellte dann meine Ideen einfach im Proberaum vor. Auf dieser Grundlage erarbeiteten wir dann die endgültigen Stücke. Ulf kam dann fest in die Band, als wir die Hälfte der Songs geschrieben hatten. Er schleppte auch ein paar komplette Songs an und hatte einige tolle Ideen für meine Stücke. Wir haben uns gleich sehr gut verstanden, und eigentlich könnte ich mir keine bessere Unterstützung in der Band vorstellen. Er ist einfach großartig.
Das eigentliche Aufnehmen der Songs war dann wieder ein ständiges Auf und Ab. Es war das erste Mal für mich, dass ich ihm Studio Gitarrenspuren aufgenommen habe. Auf den vorherigen Platten von Anchor habe ich nämlich Schlagzeug gespielt. Ich hatte aber trotzdem eine sehr gute Zeit bei den Aufnahmen, für mich lief es super relaxt ab. Natürlich gab es auch ein paar Probleme im Studio. So ist zum Beispiel der Bassverstärker nach der Hälfte der Songs kaputt gegangen, sodass wir einen ganzen Tag mit der Reparatur verbracht haben. Manchmal passieren solche Dinge eben, und man erreicht trotzdem ein gutes Ergebnis.
Bei den Aufnahmen zu "Recovery" bestand mein Ziel darin, eine Platte einzuspielen, die härter, dreckiger, punkiger und auch etwas metallischer und emotionaler als unsere vorherigen Scheiben sein sollte. Ich glaube zwar, dass wir die meisten dieser Ziele erreicht haben, denke aber, dass das andere Leute besser einschätzen können.
In dem Titel der Platte ("Recovery") geht es um die Suche nach Ausgeglichenheit und Ruhe sowie nach Bedeutung und Sinn ... um den Versuch, einige der Sachen zu reparieren, die in unserer Welt Schaden genommen haben ... um Heilung und Gesundung.
partyausfall.de: Die neue Platte kommt ja auf Refuse Recs. (Vinyl) und Let It Burn Recs. (CD, Digital) raus. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
ANCHOR: Ja, das ist richtig. Wir wussten schon von Anfang an, dass wir wieder gern mit Refuse Records zusammenarbeiten würden. Wir waren mit Roberts Arbeit bei den vorherigen Platten sehr zufrieden und fühlen uns ihm sehr verbunden. Er betreibt sein Label mit sehr viel Leidenschaft und gibt einfach alles für Refuse Records. Auch er ist sehr stolz auf unsere gemeinsamen Platten. Somit ist es eine Ehre für uns, mit ihm zusammenarbeiten zu können. Wir schätzen und mögen uns sehr.
Mit Let It Burn Records sind wir vor einiger Zeit in Kontakt getreten, und Chris zeigte sich gleich begeistert, was natürlich großartig war. Let It Burn Records ist eines der wenigen langjährig aktiven europäischen Hardcore-Labels und hat eine Reihe von Qualitätsplatten veröffentlicht. Wir sind sehr froh, unsere neue Platte bei dieser Institution veröffentlichen zu können und sind gespannt auf unsere Zusammenarbeit. Chris geht sein Label mit der gleichen Ernsthaftigkeit an, mit der wir unsere Band betreiben, sodass es eine gute Kombination sein dürfte.
partyausfall.de: Wie sehen eure Pläne für den Rest des Jahres aus?
ANCHOR: Also, wir werden einen Monat lang im Juni und Juli in Europa touren, um das neue Album zu promoten. Eine zweite Europatour soll dann im Herbst folgen. Momentan habe ich noch keine genauen Infos, aber das werdet ihr schon früh genug erfahren. Außerdem planen wir vor Jahresende noch eine Tour in einem weiter entfernten Teil der Erde. Es gibt da eine Reihe von Möglichkeiten, aber bislang haben wir uns noch nicht für einen bestimmten Kontinent entschieden.
partyausfall.de: "Obwohl Schwedens Tage als Hardcore-Speerspitze Europas lange gezählt sind, gibt es im hohen Norden immer noch eine kleine aber sehr aktive Szene. Seit einigen Jahren sind Anchor nun schon eine feste Größe in der schwedischen Hardcore-Landschaft, und wir sind sehr stolz darauf, dass sie gerade einen Deal mit Let It Burn Records unterschrieben haben."
Diese Zeilen stammen aus einem offiziellen Pressetext von Let It Burn. Ich habe zwei Fragen diesbezüglich: (ERSTENS) Was ist heute noch über von der blühenden Straight-Edge-Hardcore-Szene Schwedens (Abhinanda, Purusam, SaidIwas, Final Exit ...) und was geht bei momentan bei euch? (ZWEITENS): Unterschreibt ihr mit Anchor wirklich Verträge oder ist das nur so eine Floskel?
ANCHOR: Was von den guten alten Tagen übrig geblieben ist? Nichts. Zumindest keine der Bands. Keine der Gruppen in deiner Aufzählung hat es bis ins 20. Jahrhundert geschafft. Das ist wahrscheinlich der ganz normale Lauf der Dinge. Dafür tragen neue Bands die Fackel weiter, sodass es ganz okay ist, denke ich mal. Ich muss allerdings sagen, dass ich diese Zeit hin und wieder schon vermisse. Es gab bei uns so viele großartige Bands, die mit ihrem innovativen Sound echt die Grenzen des Genres neu definiert haben. Andererseits bin ich der Meinung, dass auch heute noch einige der besten europäischen Hardcore-Bands aus Schweden kommen. Einige Beispiele: Angers Curse, Dead Reprise, Hårda Tider, Guilty, Obnoxious Youth, Stay Hungry, Atlas Losing Grip, Sista Sekunden, Håll Käften Vad Vill Du, Youngblood, Suis La Lune und viele andere mehr. Das sind alles tolle Bands und ich würde nicht sagen, dass es momentan schlecht um den schwedischen Hardcore bestellt wäre.
Wir haben in der Vergangenheit tatsächlich schon Verträge unterschrieben, aber nicht mit unseren momentanen Labelpartnern. Ich denke, dass es eher selten ist, dass du als HC-Band wirklich einen Vertrag unterzeichnest. Wir sind darauf angewiesen, uns gegenseitig zu vertrauen. Im Endeffekt sind wir alle Punks und ziehen uns nicht gegenseitig über den Tisch, da dich so etwas sowieso eines Tages einholt.
partyausfall.de: Wie schätzt du die momentane HC-Szene im Vergleich zu der vor 10/15/20 Jahren ein? Würdest du mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass die Kommunikation insgesamt oberflächlicher und die Inhalte gleichzeitig bedeutungsloser geworden sind und es jetzt einfach mehr Kids gibt, die am Ende des Merch-Stands ihren Verstand ausschalten?
ANCHOR: Sicher wäre es einfach zu sagen, dass "back in the good old days" alles besser war. Größere Bands, größere Shows und so weiter. Im Teenageralter war das alles in vielerlei Hinsicht überwältigend für mich. Sogar jetzt, also 15 Jahre später, gibt es einige Aspekte, die ich noch immer nicht so richtig fassen kann. Andererseits war es auch so, dass Hardcore in dieser Zeit unglaublich populär geworden ist. So wurden viele nicht ernsthaft interessierte Leute in diese Kultur hineingesogen. Das hat die Szene dann Ende der Neunziger im Handumdrehen ausgetrocknet. Erst mit einem gewissen Abstand ist mir bewusst geworden, was für eine Drehtür Hardcore für viele Kids damals war. Die Kids kamen und gingen, als hätte die ganze Sache keinerlei Bedeutung. Als dann Ende der Neunziger das neue große Ding um die Ecke kam, nämlich der Hellacopters-Rock-n-Roll-Sound, haben viele Leute sich einfach Jeanswesten angezogen und Hardcore hinter sich gelassen. Zurück blieben diejenigen, denen die Sache wirklich etwas bedeutet hat. Seit dieser Zeit hat Hardcore in Schweden mehr oder weniger ein stabiles Level erreicht, ohne große Schwankungen.
Teil der Hardcore-Bewegung in den Neunzigern gewesen zu sein, war auf jeden Fall eine großartige Erfahrung, das muss ich schon sagen. Im Nachhinein ist es unfassbar, dass es damals so viele tolle und originelle Bands bei uns gegeben hat. Politische Inhalte hatten in dieser Zeit einen ganz anderen Stellenwert im Hardcore als heute. Ich persönlich habe diesen Input genutzt, um mir eine Meinung zu verschiedenen Themen zu bilden und meine Einstellungen zu festigen. Es war einfach sehr inspirierend und für mich sogar eine Sache, die mein Leben verändert hat. In meiner Heimatstadt Göteborg sind die meisten HC-Kids vegan, straight edge und irgendwie aktiv in politischen Zusammenhängen oder Tierrechtsgruppen. Ich habe das Gefühl, dass Hardcore gerade eine gute Zeit in Schweden erlebt.
partyausfall.de: Welche Rolle spielt das Internet mit seinen unbegrenzten Möglichkeiten bei dieser Entwicklung? Denkst du, dass die positiven Effekte die negativen überwiegen?
ANCHOR: Ehrlich gesagt bin ich da nicht wirklich sicher. Das Internet hat für viele Leute neue Möglichkeiten eröffnet und hilft natürlich dabei, HC/Punk weiter zu verbreiten und die Sache am Leben zu erhalten. So ist es jetzt ein leichtes, neue Bands zu entdecken. Ob das nun alles so positiv ist, weiß ich allerdings nicht.
Vor ein paar Tagen habe ich mich wieder mit einem Freund darüber unterhalten, wie wir als Kids neue Bands entdeckt haben. Diese ganze Welt des Tapetradings, der Mixtapes usw. hatte schon etwas Besonderes. Auch damals konnte man in Zines von Bands und Platten lesen, die der vermeintliche Oberhammer waren, aber herausgefunden hat man das nur auf einem Weg: Man musste die Platte kaufen. Die Frage war dann natürlich, ob man die Scheibe im örtlichen Plattenladen finden würde. Wenn nicht, musste man Geld zusammenkratzen, das Teil irgendwo bestellen und dann wochenlang auf das Päckchen warten. Erst dann konnte man sich wie bei einem Ritual in Ruhe hinsetzen und die Platte Stück für Stück erforschen. Es war einfach eine großartige Sache. Das Entdecken neuer Musik zu dieser Zeit hatte zweifellos etwas Magisches. Auch heute noch kann ich mich für neue Bands begeistern, aber damals hatte das etwas von einem Ritual, weil nicht alles mit einem Mausklick zu bekommen war. Man musste eine Anstrengung unternehmen und ging auch ein gewisses Risiko ein. Ich habe eine Menge Platten nur gekauft, weil das Artwork cool aussah oder weil sich der Bandname so anhörte, als würde ich die Gruppe mögen können. Meistens fand ich die so entdeckten Bands tatsächlich cool, aber manchmal waren sie auch nicht so mein Fall. Diese Erlebnisse haben bei mir zu einer außerordentlichen Begeisterungsfähigkeit für Musik im Allgemeinen geführt, die heute immer noch so stark ist wie am ersten Tag.
partyausfall.de: Als Band propagiert ihr ja den Vegan-Straight-Edge-Lifestyle. Kannst du kurz erklären, was das für dich persönlich bedeutet? Warum seid ihr der Meinung, dass man diesen Lebensstil offensiv vertreten sollte?
ANCHOR: Für mich bedeutet Veganismus, in Einklang mit dem Rest der Welt zu leben. Man gibt mehr, als man nimmt. Ich will einfach nicht, dass Tiere für mich sterben oder leiden müssen. Das mache ich sowohl zu meinem eigenen, als auch zum Wohl anderer. Wenn man sich erstmal vergegenwärtigt hat, dass die Menschheit nicht die einzige leidensfähige Spezies ist, dann muss man Rücksicht auf das Leid anderer nehmen und - was noch wichtiger ist - alles dafür tun, dieses Leid zu beenden. Als Menschen haben wir eine Wahl und können uns entscheiden. Daraus erwächst auch eine Verpflichtung. Das Leiden und den Tod von Tieren ernährungstechnisch zu seiner Lebensgrundlage zu machen, bedeutet Schlechtes Karma ohne Ende - und das sage ich als eine keineswegs religiös veranlagte Person. Durch einfaches Nachdenken kommt jeder zu diesem Schluss. Ich war nie jemand, der andere Leute vom veganen Lebensstil überzeugen wollte, aber wenn mich jemand fragt, bin ich immer gern bereit zu erklären, warum ich so lebe. Diese Sache liegt mir sehr am Herzen und ich treffe immer wieder Leute, die neugierig sind und Fragen stellen.
partyausfall.de: Du sagst: "... alles dafür tun, dieses Leid zu beenden." Sprichst du dich für gewaltsame Aktionen aus, um das Leiden der Tiere zu beenden bzw. bist du mit solchen Aktionen einverstanden? Bis zu welchem Grad ist deiner Meinung nach Gewalt ein legitimes Mittel im Kontext von Direct Action?
ANCHOR: Ich unterstütze in jedem Fall Direct Action. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen sehe ich Sachbeschädigung nicht als Gewalt an. Man kann einem unbelebten Objekt keine Gewalt antun.
Vor ein paar Jahren wollte unsere damalige Regierung die Pelztierfarmen verbieten. Leider ist nichts aus dem Gesetz geworden, weil unsere jetzige Regierung, die eine sehr konservative ist, die ganze Idee über Bord warf. Ich bin der Überzeugung, dass es nie zu diesem Gesetzesvorschlag gekommen wäre, wenn nicht verschiedene Animal-Liberation-Gruppen Mitte der Neunziger Pelztierfarmen in ganz Schweden angegriffen hätten. Durch diese Aktionen konnten nicht nur unzählige Leben gerettet und zahlreiche dieser Farmen geschlossen werden, auch eine tief greifende Debatte über die moralische Seite des Tötens für Pelzprodukte wurde in den Mainstream-Medien angestoßen. Der Gesetzesvorschlag war zweifellos ein Produkt dieser Debatte, welche wiederum nur durch die Tierbefreiungsaktionen aufkommen konnte.
partyausfall.de: Ich denke, dass viele Menschen in der Linken ein verzerrtes Bild von der Vegan-Straight-Edge-Bewegung in Bezug auf eine Reihe von Themen haben. Ich meine damit das problematische Bild, das die Hardline-Bewegung oder militante Bands wie Earth Crisis mit ihren Äußerungen zu Fragen wie Abtreibung, den Wert des Lebens, Homosexualität, Gewalt usw. hinterlassen haben. Wie ist eure Einstellung als Band zu dieser Problematik? Ich glaube, ich will Folgendes wissen: Inwiefern distanziert ihr euch von diesen Stereotypen und den reaktionären Elementen und Strömungen, die zweifellos ein fester Bestandteil der Vegan-Straight-Edge-Bewegung sind?
ANCHOR: Bei Anchor ging es immer um zwei Sachen: Die Musik zu machen, die uns gefällt und unsere Meinung zu äußern. Besonders auf Tour haben wir jede Menge interessanter Gespräche über alle möglichen Themen. Das ist eine der Sachen, die Hardcore/Punk zu so etwas Besonderem für mich macht. Es ist ganz einfach keine kommunikative Einbahnstraße. Ich habe unheimlich viel durch die Gespräche mit Fremden gelernt, die ich durch Hardcore/Punk kennenlernte und konnte ihnen hoffentlich auch die eine oder andere Sache vermitteln.
In meinen Augen sind Veganismus und Straight Edge progressive Ideen, in denen homophobe, rassistische oder sexistische Ansichten nichts verloren haben. Als Band sind wir pro-choice, weil wir glauben, dass den Frauen das alleinige Entscheidungsrecht über ihren Körper zusteht. Wenn eine Frau meint, sie ist nicht in der Lage, ein Kind groß zu ziehen, dann sollte sie das auch nicht tun müssen. Es gibt schon genug zerrüttete Familien, verantwortungslose Eltern und vernachlässigte Kinder in dieser Welt.
partyausfall.de: Seht ihr euch selbst als politische Band? Wie drückt sich das in eurer Arbeit mit der Band aus? Welche Themen liegen euch ganz besonders am Herzen?
ANCHOR: Ich denke, alle Bandmitglieder haben auf individueller Ebene politische Ideen und Ideale. In unseren Songs und bei Interviews sprechen wir auch darüber, was wir in dieser Welt für veränderungswürdig halten. Einige von uns waren über Jahre hinweg in lokalen Politgruppen tätig, allerdings kann ich nicht sagen, inwiefern bzw. wie sich das in unserer Arbeit mit Anchor widerspiegelt. Schwere Frage.
Ich glaube, dass uns als Individuen unterschiedliche Sachen am Herzen liegen. Ich muss aber auch sagen, dass es mir schwer fällt, einzelne Themen herauszupicken, um diese über andere zu stellen. Im Grunde geht es mir hauptsächlich um den Kampf für eine offene und solidarische Gesellschaft, in der alle gleich sind, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sexueller Orientierung ... eine Gesellschaft, in der Tiere nicht als biologische Maschinen gesehen werden, die der Mensch nur benutzt, sondern als einzigartige und wunderschöne Lebewesen, die ein Recht auf ein Leben in Freiheit haben. Das hängt in meinen Augen alles zusammen. Da ich aus einem klassischen Arbeiterklassenhaushalt komme, liegt mir auch der Klassenkampf am Herzen - genau so sehr, wie der Feminismus und der Kampf für die Rechte von Homosexuellen.
partyausfall.de: Denkst du nicht, dass es besser wäre, sich mit eurer Message an Leute zu wenden, die noch nicht damit in Berührung gekommen sind, anstatt wieder und wieder zu den bereits mehr oder weniger überzeugten Menschen auf HC-Konzerten zu predigen?
ANCHOR: Im Laufe der Jahre habe ich mir diese Frage schon eine Million Mal gestellt und bin zu der Überzeugung gekommen, dass es sehr wohl wichtig ist, diese Sachen auf Konzerten anzusprechen. Wir werden den Leuten auf unseren Shows zwar nicht wirklich viel Neues erzählen, aber Hardcore/Punk ist nun einmal der Ort, an dem wir alle Schutz vor der Gewalt und dem Druck der Welt da draußen finden können, um etwas miteinander zu teilen. Es ist eine Plattform, auf der wir Ideen austauschen und uns gegenseitig in unseren individuellen Kämpfen und Konflikten beistehen und ermutigen können. Wir müssen begreifen, wie wertvoll dieser Ort ist. Viele Leute in dieser Welt verfügen nicht mal ansatzweise über so eine Möglichkeit.
Glaube ich an Punk als ein Medium, um das Leben anderer Menschen zu verändern? Nun, die fünf Leute in Anchor sind der lebende Beweis dafür, dass das durchaus der Fall sein kann. Allerdings denke ich auch, dass wir etwas in uns hatten, das uns von vornherein empfänglicher für diese Art Input gemacht hat. Ich bin der Überzeugung, dass nur ein ganz bestimmter Menschenschlag wirklich so etwas wie Sinn und Erfüllung in einem Zwei-Minuten-Punksong finden kann.
partyausfall.de: Was macht Hardcore/Punk so faszinierend für dich, dass du soviel Zeit, Energie und Geld hineinsteckst? Was hält dich nach all den Jahren noch bei der Stange?
ANCHOR: Nun, eigentlich die Sachen, die ich gerade erwähnt habe - die Tatsache, dass Hardcore ganz allein uns gehört, wenn wir nur wollen und dass wir daraus machen können, was immer wir möchten, wenn wir uns nur dieser Möglichkeit bewusst werden. "This is our time, this is our place", wie Bane mal so treffend sagten. Niemand kann uns diese Momente nehmen. Sie gehören für immer uns.
Ich komme aus einem kaputten Elternhaus und musste mich mit vielen abhängigen Menschen in meiner Umgebung auseinandersetzen. Ich war nicht so, wie all die anderen Kinder in der Schule - ich habe anders ausgesehen und fühlte mich in vielerlei Hinsicht auch einfach fremd. Ich habe all diese Kinder in der Schule gesehen, die zwei Eltern hatten und ein tolles Zuhause. Ich hatte das alles nicht. Ich war einfach nur ein junger Kerl, der darauf brannte, sich für all die Ungerechtigkeiten in seinem jungen Leben zu rächen. Hardcore/Punk bot mir einen Unterschlupf und ein Ventil. Das konnte mir niemand nehmen - Straight Edge gehörte nur mir und zwar für immer. Ich habe für mich selbst eine Bedeutung in all diesen Dingen gefunden und das half mir dann auch immer wieder aufs Neue dabei, mich durch den Tag zu kämpfen. Seitdem ich das erste Mal mit Hardcore/Punk in Berührung kam, trage ich diese Gewissheit in meinem Herzen, und ich weiß, dass sie sowohl für mich als auch für viele andere Menschen auf diesem Planeten lebenswichtig ist. Wir haben alle sehr unterschiedliche Geschichten, aber gleichzeitig sind wir alle auch irgendwie aus den gleichen Gründen hier und können eine Menge voneinander lernen. Manchmal ist Hardcore einfach nur ein Riesenspaß und manchmal - wenn man eine Verbindung mit anderen herstellt - liegt auch ein Hauch Magie in der Luft.
partyausfall.de: Wie seht ihr die Zukunft von Hardcore angesichts der Tatsache, dass wir seit Jahrzehnten die ewig gleiche Musik recyceln? Besonders die Straight-Edge-Hardcore-Szene wiederholt sich ja ständig und bringt nur sehr wenige originelle Ideen hervor.
ANCHOR: Ich mag irgendwie dieses Konzept, dass man als junge Band denjenigen Respekt zollt, die den Weg bereitet haben. Tradition ist sehr wichtig für unser Genre, und ich denke, dass wir sehr viel von den frühen Hardcore-Bands lernen können.
Allerdings ist es auch so, dass Bands wie Minor Threat, Black Flag oder Embrace so besonders sind, weil sie etwas vollkommen Neues aus den Einflüssen erschaffen haben, die sie zu dieser Zeit hatten. Heute ist es tatsächlich eher so, wie du sagst: wir recyceln alte Ideen, was aber auch okay ist. Allerdings sind es meiner Meinung nach nicht die musikalischen Fähigkeiten oder innovative Ideen, die Hardcore ausmachen. Hardcore ist nicht wegen der Musik oder den Entwicklungen beim Songwriting ein progressives Genre, sondern weil in seinem Zentrum bestimmte Ideen stehen - meistens zumindest. Sind diese Ideen nicht vorhanden, ist Hardcore heutzutage nichts weiter als Heavy Metal.
partyausfall.de: Wo siehst du selbst in zehn Jahren (persönlich und auch mit der Band)?
ANCHOR: Au, schwere Frage. Ich selbst lebe von einem Tag zum nächsten und kann dir gar keine sinnvolle Antwort geben. Ich hoffe inständig, dass ich dann immer noch in einer oder mehreren tourenden Bands spiele. Das Touren hat mittlerweile für so viele Jahre mein Leben bestimmt - es ist das, was ich kenne und für das ich lebe. Ich würde es toll finden, wenn wir mit Anchor immer noch aktiv dabei wären, aber das werden wir wohl abwarten müssen. Hoffentlich habe ich in zehn Jahren langsam herausbekommen, was ich neben Hardcore noch mit meinem Leben anfangen will.
partyausfall.de: Macht dir das Älterwerden eigentlich Angst? Denkst du manchmal darüber nach, dass Hardcore ja eine Jugendbewegung ist und dein Publikum immer das gleiche Alter hat, während du selbst immer älter wirst?
ANCHOR: Früher hat mir das schon Angst gemacht. In letzter Zeit fühle ich mich aber ganz gut bei dem Gedanken, älter zu werden. Vielleicht ist das aber nur eine Phase, wer weiß? In den letzten Jahren gab es in meiner Umgebung immer Leute, die älter waren als ich und in sehr inspirierenden Projekten mitgewirkt haben. Sie haben mir vorgelebt, dass man sehr wohl älter und erwachsen werden kann (was auch immer das bedeuten mag) und trotzdem noch aktiv sein und sich für Sachen begeistern kann, ohne sich der Routine ergeben zu müssen.
Hardcore ist allerdings definitiv eine Jugendbewegung, und sicherlich habe ich darüber nachgedacht, inwiefern ich in zehn Jahren noch in der HC-Szene involviert sein werde. Gleichzeitig kenne ich mich aber gut genug, um zu wissen, dass Hardcore mich so tief berührt und inspiriert hat, dass daraus eine Leidenschaft entstanden ist, die keine Altersgrenzen kennt. Das bringt mich zu der Überzeugung, dass ich in zehn Jahren immer noch diese eine Snapcase-Platte auflegen kann und dieses Feuer in mir fühle. Aber gut, warten wir’s ab.
partyausfall.de: Welcher ist dein Lieblingssong von Anchor und warum?
Gute Frage. Eigentlich spiele ich alle unsere Songs sehr gern. Vor der US-Tour letztes Jahr haben wir angefangen "Burdens" von der Platte "The Quiet Dance" live zu spielen und diesen Song mag ich wirklich sehr. Er bringt mich in Bewegung. Meine Favoriten von der neuen Platte sind: "Recovering", "Testament" und "Echoes". Ob ich einen Song mag, hängt in großem Maße davon ab, inwiefern ich ihn nach der 100. Show im Jahr immer noch gern spiele. Es wird also sehr interessant werden, herauszufinden, wie die neuen Songs live funktionieren und welche man dann immer noch mag. Ich freu mich schon drauf.
partyausfall.de: Woher rührt eure Faszination für das Touren?
ANCHOR: Ich denke, dass es viel mit meiner Arbeiterklassen-Kindheit zu tun hat - der Tatsache, dass wir uns nie einen richtigen Reiseurlaub leisten konnten. Wir sind vielleicht einmal nach Legoland in Dänemark gefahren, aber das war’s dann auch schon. Von daher schätze ich es sehr, an fremde Orte reisen zu können, wahrscheinlich viel mehr als andere Leute. Es ist einfach toll, 150 Tage im Jahr auf Tour zu sein und dabei Orte wie Moskau, Minsk, Belgrad, Forst, Boston, Vancouver, Stavanger und so weiter besuchen zu können. All diese Städte hätte ich nie gesehen, wenn ich nicht in Hardcore-Bands spielen würde. Ich habe einfach sehr viel Glück.
partyausfall.de: Was wirst du am meisten an Anchor vermissen, wenn die Band sich mal auflöst?
ANCHOR: Eine ganze Menge Sachen wahrscheinlich. Zum Beispiel: Tag für Tag hart daran zu arbeiten, einen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, die Welt zu bereisen, fremde Orte zu sehen, neue Freundschaften zu schließen, Konzerte zu spielen und vieles andere mehr. Diese Band ist zu meinem Leben geworden und ich habe so viel von ihr gelernt. Ohne sie wäre ich heute nicht der, der ich bin.
partyausfall.de: Nenne uns bitte deine 5 Lieblingsscheiben vor und nach 2000.
ANCHOR: Okay, aber zuerst muss ich sagen, dass es unglaublich viele Platten und Bands gibt, die mir sehr am Herzen liegen. Einfach fünf rauszupicken, ist nicht wirklich fair, aber gut, was soll’s ...
Vor 2000:
Good riddance - Operation Phoenix
Turmoil - The process of
Refused - Songs to fan the flames of discontent
Embrace - s/t
Earth crisis - Gomorrah's season ends
Nach 2000:
Verse - From anger and rage
Verse - Aggression
Go it alone - The only blood between us
Shai hulud - That within blood ill tempered
Alkaline trio - Crimson
Ich könnte die Liste endlos fortsetzen und habe eine gefühlte Million genialer Platten vergessen. Morgen würde diese Liste bestimmt ganz anders aussehen. Snapcase, Strife, Abhinanda, Neurosis, Catharsis, Guilt, Trial, Separation, Damnation AD, Final Exit, 108, Texas is the Reason and Deathcab for Cutie sollten alle dabei sein.
partyausfall.de: Kannst du uns ein Buch oder einen Film empfehlen, der eine Verbindung mit Anchor hat? Zum Beispiel Werke, die euch als Inspirationsquelle für Lyrics gedient oder euch interessante Einblicke in Bezug auf die Band ermöglicht haben ...
ANCHOR: Eigentlich möchte ich behaupten, dass "Anchorman" der einzige Film ist, den man wirklich gesehen haben muss, aber sicherlich gibt es noch ein paar andere, die erwähnt werden sollten. An erster Stelle alles von John Pilger. Ich bewundere seine Arbeit wirklich sehr. Außerdem würde ich folgende Filme empfehlen: "Earthlings", "The Coca-Cola Case", "Bananas", "Chavez: Inside the Coup", "Iraq for Sale", "You can’t be neutral on a moving train", "Food Inc.", "Crude Impact" und "No End in Sight". Schreibt mir einfach, wenn ihr noch mehr Tipps wollt.
Bücher: "Adult Children of Alcoholics", ein Buch von Janet G. Woititz, das mir in vielerlei Hinsicht das Leben gerettet hat. Es hat mir gezeigt, wer ich bin, woher ich komme und wie ich damit umgehen muss. Ich empfehle dieses Buch wirklich jedem von euch. Es gibt unter uns viele Kinder von Alkoholikern und Abhängigen. Als ich 15 war, habe ich "Gelebtes Leben" von Emma Goldman gelesen, und irgendwie hänge ich immer noch an diesem Buch. Außerdem bin ich ein großer Fan von Albert Camus und Charles Bukowski. Zum Schluss noch ein Tipp zu einem skandinavischen Autor: Wenn ihr irgendwann mal etwas von dem norwegischen Schriftsteller Erlend Loe in die Hände bekommt, dann müsst ihr es ganz einfach mitnehmen! Er ist absolut genial, und ich denke doch, dass die meisten seiner Bücher ins Deutsche übersetzt wurden.
partyausfall.de: Abschließende Kommentare, Grüße oder Sachen, die ich euch zu fragen vergessen habe?
ANCHOR: Ein Riesendank geht an die Leute, die Anchor in welcher Weise auch immer geholfen haben. Diese Band machen wir für euch!
Bilder/Credits: Anchor