Helene Karmasin - Aggressives Steak, friedliche Pasta
Verfasst: 16.01.2007, 14:05
Hab hier mal ein ganz interessanten Artikel von meiner Freundin bekommen (sie studiert soziale Arbeit):
Aggressives Steak, friedliche Pasta
Was man bei einem Festmahl über unsere Psyche lernen kann, weiß die Motivforscherin Helene Karmasin. Mit ihr dinierte Urs Willmann Urs Willmann
Mmmh, lecker, dieses Süppchen! Wie viele Punkte hat das Steirereck, Frau Karmasin? "19 von Gault Millaut." Der Wiener Tempel der Hochküche. Sieben Gänge hat hier das "Festliche Nachtmahl". Aber was bitte hat Blutwurst unter den Mundhappen zu suchen?
"Daran sehen Sie, was Hochküche ausmacht, Aufschwellung, Veredelung. Die Blutwurst ist eingepackt in japanischen Tempurateig. Die Maronicremesuppe, klassisches Herbst-/Winter-Essen, wird, elitär miniaturisiert, serviert im Schnapsglaserl."
"Das ist die Antwort auf die Demokratisierung des Konsums."
Eine antidemokratische Blutwurst?
"Normalerweise sucht sich die Elite das Exklusive. Doch der Trickle-down-Effekt bringt es mit sich, dass Güter, die zuerst nur der oberen Schicht zugänglich waren, verbilligt und allen verfügbar gemacht werden. Lachs zum Beispiel. Das zwingt die Elite, nach neuen Zeichen zu suchen, um sich abgrenzen zu können. Also bedient sie sich auch der Lebensmittel, die ,unten rausgefallen' sind. Etwa der Blutwurst. Die kommt natürlich nicht nackt auf den Teller; sie trägt ein zivilisiertes Hemdchen."
Für Helene Karmasin geht es beim Essen nur am Rande ums Sattwerden; hauptsächlich sieht sie es als Kommunikationssystem. Die Psychologin muss es wissen. Sie hat auch Philologie, Semiotik und Ethnologie studiert, lehrt in Wien zugleich an Universität, Wirtschaftsuniversität und Hochschule für angewandte Kunst und leitet das Institut für Motivforschung. Von Berufs wegen berät sie in Stilfragen - Mercedes, Knorr, Nestlé, Gruner+Jahr, die Deutsche Bank. Als Autorin entschlüsselte sie Die geheime Botschaft unserer Speisen (Verlag Antje Kunstmann, 1999). Wo anderen der Sinn nach Vitaminen und Spurenelementen steht, wo unsereiner Kalorien rechnet oder Speckwürfel zählt, da offenbart sich ihr das Wesen der Kultur.
Frau Karmasin, warum werden Weihnachts- und Neujahrsdiner zu rituellen Essen?
Und wie formt man aus Lebensmitteln Kunst?
"Die Zubereitung ist eine Fähigkeit, die uns vom Tier unterscheidet. Es ist das Feuer, das ein Nahrungsmittel aus dem Status der Natur in den Status der Kultur überführt. Mythen setzen den Beginn der menschlichen Kultur mit dem Erwerb des Feuers gleich. Daher wird warmes Essen höher bewertet. Die kalte Platte taugt weder als Sonntagsschmaus noch als Festessen."
Semantik, Syntax, Pragmatik wollen beherrscht sein, wenn einer eine Sprache spricht. Genauso viel kann beim Tafeln schief gehen. Ein zerknitterter Blumenstrauß auf dem Tisch des Nobelrestaurants ließe auf vernachlässigte Semantik schließen. Wird der Apfelkuchen vor dem Chili serviert, stimmt die Syntax nicht. Und wer seinem Chef eine schäbige Erbsensuppe auftischt, sollte Nachhilfestunden in Pragmatik nehmen, um in Zukunft den sozialen Kontext des Zeichensystems Essen zu erfassen.
Darf man das da mit den Fingern essen?
"Natürlich. Noch befinden wir uns hier in einem frühen Stadium der Zivilisation. Finger-Food ist vorkulturell. Auch das Trinken der Suppe erzählt von den Anfängen - und das Werkzeug Löffel ist älter als Messer und Gabel. Auch was die Konsistenz betrifft, bewegen wir uns langsam von den nassen, weichen, hierarchisch tiefen, weiblichen Speisen hin zu den festeren. Das Essen wird sich zunehmend materialisieren, hin zur Hauptspeise, dem festen Fleisch."
Ah, da kommen die Garnelen.
"Noch nicht ganz Fleisch, aber schon fester in der Konsistenz. Und lau, noch nicht warm. Wir steigern uns und werden uns später vom Höhepunkt wieder wegbewegen. Das Mahl hat eine zyklische Struktur."
Da ist wieder ein Produkt, das in der Werteskala unten rausgefallen ist: ein Kartoffelchip.
"Die Überraschung. Sie darf nie fehlen."
"Tja, aber diese zwei Löcher in der Kartoffelscheibe! Der Chip ist eine Malerpalette! In den Löchern Chicorée-Blätter - zwei Pinsel symbolisierend. Achten Sie auf die Farben: Grün, Rosa, Beige. Es ist Kunst, was Sie hier essen!"
Am höchsten bewertet ist das feste, gebratene Fleisch. Ein hochrangiger Tag, ein hochrangiger Gast - auf den Tisch gehört ein ordentliches Stück Proteine, ins Zentrum des Mahls, in die Mitte des Tellers. In den Magen wird das Fleisch mit aggressiven Methoden verfrachtet: Zerschneiden, Kauen. Es wird durch einen Akt des Tötens gewonnen. Ergo wird es assoziiert mit Begriffen wie hochrangig, offiziell, männlich, zentral, aggressiv. Gemüse und Kohlenhydrate am Rand des Tellers sind niederrangig, alltäglich, weiblich, an der Peripherie, friedlich.
Was sich einer in Aldis Fleischwarenabteilung für 15 Mark das Kilo unter den Nagel reißen kann, markiert für den englischen Anthropologen Nick Fiddes die Überlegenheit des Menschen gegenüber der Natur, die er sich durch Aggression untertan gemacht habe. Verdeutlicht wird der Sieg durch die augenfälligste Anwendung von Feuer: braten. Dass Steakgrillen Männersache ist, bestätigt der sonntägliche Blick in den deutschen Schrebergarten. Die Forschung hat sich auch in Kenia umgesehen. Bei den Iteso, so beschreibt Jessica Kuper in ihrem Anthropologist's Cookbook, kocht die häusliche Frau Tag für Tag den Brei, drinnen. Und Festtags röstet der Mann das Fleisch - draußen, mit der Grillzange ganz im politischen Leben stehend.
Ganz politisch korrekt ist heute die Gleichung Mann=Fleisch nicht mehr. Die Küchenuhr tickt langsamer als das Zeitgeistchronometer. Aber sie ist ihm auf den Fersen. Parallel zur Emanzipation wenden sich junge Männer neuen, weiblich geprägten Essstilen zu: friedliche Pasta, gesunde Gemüsepfanne.
Die Geschlechtsanalogie, lehrt Karmasin, findet sich auch in Konsistenz und Geschmack: Die emotionale Frau im weichen Körper ist durchlässig; sie schmilzt dahin, bricht in Tränen aus. Weibliche Nahrung ist daher küchenphysikalisch weich, flüssig, süß. Der männliche Körper dagegen, der das Innere wie ein Panzer zusammenhält, aus dem nichts nach außen dringt, steht für fest, nichtsüß, energiereich.
Frau Karmasin, (räusper) ich möchte Ihnen etwas zeigen. Wo hab ich sie nur? Da, in meiner Mappe. Diese Karotte hier!
"Die haben Sie im Bioladen gekauft."
Korrekt, Osterstraße, Hamburg-Eimsbüttel. Woran sehen Sie das?
"Sie entspricht nicht der generellen Ästhetik." Dezent ausgedrückt.
"Eine Karotte aus dem Supermarkt wäre gerade, glatt, sauber, wäre standardisiert, eine wie die andere. Jeder Zug wild wachsender Natur wäre getilgt - was man von dieser Rübe nicht gerade sagen kann. Die könnten Sie so nie auf den Teller legen."
Um Himmels willen, natürlich nicht! Zu eindeutig.
"Heute wird Natur unkenntlich gemacht, bevor sie auf den Teller kommt. Alles wird zerkleinert. Nichts erinnert in der Fleischwarenabteilung noch an Tod und Tier. Früher wurden gebratene Vögel im Federkleid serviert - heute reagieren die Leute schon auf ein Spanferkel empfindlich."
Wir essen, bekleiden uns, fahren, lesen. Aber weder Toblerone noch Hemd, Ducati oder ZEIT sind ausschließlich Nahrung, Kleidung, Fahrzeug, Zeitung. So manches Lebensmittel hat den Kulturtheoretiker schon allein seiner natürlichen Form wegen in Aufregung versetzt. Spargelknabbern und Austernschlürfen - wer denkt da nicht an Oralverkehr? Auch die Banane und die Chilisorte Capsicum annum (auch "Penis Pepper" genannt) haben unübersehbar erotisches Potenzial. Oder die samengefüllte Feige: Der Schriftsteller D.H. Lawrence erfreute sich an ihrem "reifen Schoß".
Die postmoderne fleischlose City spiegelt sich auf dem Teller
Wo sich in biologischen Trieben wie Hunger und Libido Analogien finden, ist Sigmund Freud nicht weit. Kommen nicht bei der Befriedigung dieselben Körperteile zum Einsatz? So weiß der Freudianer aus den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, dass wir Essen und Sexualität ein Leben lang durcheinander bringen, weil wir als lutschendes Baby beim Stillen die ersten lustvollen Empfindungen in unsere Erinnerung eingebaut haben. Die Sprache selbst spricht Bände: vernaschen, süß, Appetit. Das altgriechische parothides kann Vorspiel oder Vorspeise heißen. Moderne Werbeslogans wie "Ich und mein Magnum" oder Milkas "zarteste Versuchung" spielen auf diese Analogie an.
Frau Karmasin, warum die multikulturelle Bezeichnung "Styria Beef" für den männlichen Höhepunkt, der hier auf meinem Teller liegt?
"Aufschwellung. Auch beim Vokabular. Schauen Sie mal die Karte an. Statt Apfelsaft trinken wir ,Cox Orange - den Château Mouton unter den Säften'. Beim Fleisch macht ,Styria' den Regionalbezug deutlich. Der Terminus ,Beef' aber steht für die USA und ihre Hochkultur: Rindfleisch, Musik, Internet. Amerika ist groß. Das hochwertigste Produkt des Mahls verdient hochwertige Semantik. Daher verspeisen wir keinen steirischen Almochsen, sondern Beef."
Die Anthropologin Mary Douglas bringt alle unsere Speisen auf eine gemeinsame Formel: a plus 2 b. Zum Hauptelement kommen zwei Nebenelemente. Der Braten wird mit Gemüse und Kartoffeln serviert, die Nudeln mit Fleischragout und geriebenem Käse. Sogar der McDonald's-Burger ist so gebaut: Fleisch, Brot, Salatblätter - mitsamt der Hierarchie in der Zubereitung: gebraten, gebacken, roh. Doch in der Moderne hält das Amorphe, das Chaos, Einzug. Nicht nur die traditionellen Familienstrukturen sind im Eimer, auch die Hierarchie im Teller ist größerer Freiheit gewichen: wenig strukturiert, kreativ, leicht anzueignen. Die Speisen von Individualisten im Unterschied zu denen von Hierarchisten. Erfolgreiche Fertiggerichte wissen das: Maggi Pasteria, Asia Nudelsnack.
Was zeigt uns der Koch im Steirereck?
"In der Hauptspeise demonstriert der Koch möglichst viele Unterschiede, was Zubereitung, Konsistenz, Farbe, Form, Geschmack betrifft. Auch in der Gesellschaft hebt sich die Eliteperson vom Durchschnitt durch ihre unglaubliche semiotische Virtuosität ab, die Fähigkeit, möglichst viele Unterschiede zu kennen. Hier Zucchini, grün, in Scheiben, angebraten. Die Kartoffeln hell, gekocht, breiig und: vertraut schmeckend. Paprika, rot, gedünstet, fremd..."
Jetzt kommt der Käse: sehr scharf.
"Wir sind pappsatt, also sind jetzt die intensiven Geschmäcker dran."
Gleich noch das Dessert.
"Auch das muss verlockend sein. Ohne Verführung kriegen wir keinen Bissen mehr runter. Zucker wird sofort und sehr intensiv im Mundraum gespürt, fast wie eine kleine Explosion." Zucker ist rundum weiblich. Er süßt Desserts (weich!), eingekochte Früchte (Frucht!) oder Getränke (flüssig!).
Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung: dieses plumpe Metallteil auf dem Tisch, diese Fischskulptur, zusammengeschweißt aus Messern und Gabeln - ein Stilbruch, gelinde gesagt.
"Sehen Sie im Raum die Säulen, die ein falsches Gewölbe tragen? Die Fresken, die keine sind? Die ,Kerze', auf unserem Tisch, die Petroleum verbrennt. Ein Kuddelmuddel von Stilen."
Die Postmoderne hat Einzug gehalten. Auch auf dem Teller. Wir hatten Pastinakennudeln mit Trüffeln; es hätte auch Rotkraut mit Hummer sein können. Die Postmoderne rückt von klassischen Vorstellungen von Ordnung und Strukturiertheit ab. Auch von der Idee des Zentrums. Eine Entwicklung, die in der Küche nicht ohne Folgen bleiben kann. Kein Problem, die entvölkerte, fleischlose City auf dem Teller zu orten. Im Pastagericht. Der ganze Tagesablauf ist durcheinander, postmodern geraten. Mahlzeit ist nicht mehr das Zentrum des Tages.
"Auch das industrielle Zeitalter haben wir heute Abend durchlebt: Knopfdruck und Genießen. So das Diner à la Française im 19. Jahrhundert, nun das passive Genießen am Ende des Millenniums. Wir sitzen hier, und eins nach dem anderen wird angeliefert."
Morgen habe ich Freunde zum Käsefondue eingeladen.
"Ausbruchsversuche, zurück ins Archaische, sind schick geworden. Der rüde Wettbewerb im gemeinsamen Topf ist das Modell des ungezähmten Kapitalismus: Jeder kämpft mit seinem Spieß. Wer das Brot verliert, wird bestraft."
Frau Karmasin, herzlichen Dank. Ich wünsche Ihnen frohe Feste. Und gesegneten Appetit.
Helene Karmasin: Die geheime Botschaft unserer Speisen Verlag Antje Kunstmann, 1999
© DIE ZEIT 1999